Erinnerungen
Unberührt von den Fesseln der Zeit und denen des Todes schwebte der Gedanke durch felsige Täler. Über Schluchten hinweg, durch kümmerliches Krüppelgewächs auf steinigen Hängen, vorbei an vereinzelten Siedlungen und hin zu den Ruhestätten der Tiere, welche ihn furchtsam flohen. Der Gedanke und die Idee und der Geist eines Mannes, welcher schon seit langem tot und von all seinen ehemaligen Freunden aus ihren eigenen Gedanken verbannt worden war. Doch er lebte, existierte weiter, den Klagen des Volkes und den Gesetzen der Götter zum Trotze. Getragen vom Wind, der ihn mit sich zu fernen Orten trug, getragen von einem Wunsch, welchen er selber nicht kannte.
Lange, ungezählte Jahre schweifte er so durch die Berge, nicht wissend, was war, nicht wissend, was kommen würde. Leer und ohne Erinnerung war er und daher auch ohne Ziel. Und so kam es, daß er auch an jenem Tage nicht wußte, was ihm zu Gebote stand, als er vom Wind zu einem einsamen, kleinen Gipfel ganz am Rande des Gebirges getragen wurde. Dort aber lebte in einer windschiefen Hütte mitten auf dem höchsten Punkt des Grates ein einsamer Magier, welcher das Leben eines Eremiten führte. Hieraus versprach er sich tiefere Erkenntnis. Da es aber den Geist zu seiner Wohnstatt trieb, da spürte er dessen Kommen mit seinen, für alles Unnatürliche geschärften, Sinnen.
Und derart verhielt es sich dort, daß der Magier selbst seine Hütte verließ und seine Stimme an den Wind wandte und sprach: "Wer bist du, fremdes Wesen? Was ist dein Ziel und was dein Begehr?"
Der Geist aber wußte keine rechte Antwort auf diese Fragen und also blieb er sie dem Magier schuldig. Dieser jedoch, getrieben vom Ehrgeiz des Forschers, gab sich damit nicht zufrieden und fragte weiter und bohrte immer tiefer und wurde immer eindringlicher im Fragen, zumal er nun spürte, daß ihm von jenem Geiste keine Gefahr drohte. Und der Geist wand sich und versuchte zu denken und brachte dies doch nicht so recht zustande. Und schließlich, mit all der verbliebenen Kraft seines Willens, schaffte er doch zumindest dieses Eine: Daß nämlich der Wind, der ihn trug, leise Worte flüsterte und diese kündeten dem Magier von der eigenen Unwissenheit der gespenstischen Erscheinung. Überrascht schreckte der Magier da auf, denn er war ein Mann, welcher in vielen Disziplinen bewandert war und großes Wissen sein Eigen nannte. Unter all seinem Wissen über Geister jedoch war eine Sache ihm stets unumstößlich erschienen und dieses war, daß einjeder Geist nur deshalb noch auf der Welt des Lebens weilte, um dort eine von ihm zu den eigenen Lebzeiten unerfüllte Aufgabe noch zu beenden, denn so hieß es in allen Gilden der Magier. Doch wie, so fragte er sich, konnte denn ein Gespenst eine solche Aufgabe erfüllen, wenn es sie nicht einmal kannte?
Und als er dies dachte, da erkannte der Magier somit zugleich auch, daß dieser Geist niemals würde freikommen und sich zur Ruhe begeben können, fände er nicht jene Aufgabe zumindestens heraus. Ihn aber, den Gelehrten, dauerte die körperlose Kreatur und er beschloß, ihr zu helfen. So redete er also als erste Tat solcher Hilfe zunächst eine lange Weile auf den Geist ein, schilderte ihm sein Wissen und legte ihm so manches dar, was nichts anderes war als uraltes Gesetz der Welt und der Magie. Und der Geist, wenn er auch zu Lebzeiten viel von jenem schon gewußt haben mochte, saugte doch jede kleinste Information bis aufs Tiefste in sich auf, denn sie war ihm größte Kostbarkeit. Und als der Magier nach vielen Stunden endete, da hatte er durch seine Rede einen neuen Freund gewonnen.
Da schlief der Magier nun um seiner Erschöpfung willen die folgende Nacht durch und als er am Morgen des nächsten Tages erwachte, da spürte er nach wie vor den Geist um sich herum. Und da dachte er nach, wie er wohl fortfahren könne der verlorenen Seele zu helfen, und er kam zu dem Schluß, daß er dies dort am Orte, in den Bergen, nicht tun könne, sondern daß sie sich zu anderen Orten würden begeben müssen, welche der Geist aus früheren Zeiten vielleicht noch kannte und möglicherweise würde wiedererkennen können.
Und so begab es sich, daß der Magier mit dem Geist in seinem Gefolge hinabstieg in die weiten, grünen Täler, welche nördlich an jenes Bergland anschlossen. Hier lag ein Land des hohen Grases und weniger, vereinzelt stehender, menschlicher Gehöfte, die für sich die Ebenen und Hügel beanspruchten, ohne dabei aber jeweils mehr als einen Hauch ihrer Weite auch nur einsehbar zu haben. Noch weiter nach Norden hin aber lief diese Landschaft aus in die nördlichste der fünf Städte, auf deren Territorium all das Bergland und die Ebenen gelegen waren. Und über die weiten, endlosen Straßen dieser Stadt wanderte da der Magier und die einzelnen, niedrigen Gebäude, welche er von Zeit zu Zeit auf der linken oder rechten Seite passierte, spotteten seiner Suche Hohn, denn einsam und verlassen wirkte die Stadt auf ihn in ihrer Weite.
Und verstehen wird ihn hierin einjeder, der nicht selbst in den fünf Städten aufgewachsen ist, denn diese Orte sind als Ganzes über gewaltige Landstriche verteilt. Ihre Straßen sind Wege, die zwischen Kreuzungen verlaufen, die oft viele Wegstunden voneinander entfernt sind. Und so viele Einwohner die fünf Städte auch haben mögen, so wenige leben daher doch an einem einzigen Ort oder an einer einzigen Straße. Von endlosem Maße sind jene Gebilde, die wir bei uns "Häuserblocks" nennen und selbst um ihre belebtesten Marktplätze und um ihre Häfen und sogar Rathäuser herum kann man dort meist weniger lebende Wesen antreffen, als auf einem mittelgroßen Dorfplatz in so manch anderer Gegend. Die Städte in ihrer Gesamtheit aber sind mächtig und ihre Heere groß und gefürchtet und keinen Herrscher gab es, der die Städte gesehen und nicht von ihnen beeindruckt gewesen wäre.
Durch eine einsame, riesige Stadt ging daher dort der Magier mit einem beseelten, ständig pfeifend flüsternden Wind um sich herum und auch der graue Himmel über ihnen wollte nicht recht aufklaren in jenen Tagen. So schritten sie weiter fort und eines Tages erreichten sie einen Obelisken, der als Siegessäule an einer Wegkreuzung aufgestellt war. Viele Mannshöhen ragte jene Säule in den Himmel auf, verziert von Reliefs und Inschriften, und als der Geist sie sah und ertastete, da erschien es ihm, als ob er etwas an ihr erkennen würde und er umwehte sie und erfühlte sie und bald nagten die flüchtigen Bilder einer entschwundenen Erinnerung an seinem Verstand. Er wußte nicht recht, was es war, woran er sich erinnerte, doch nach einer Weile stellte er fest, daß einige der Inschriften ihm vertrauter schienen als andere und dies erzählte er dem Magier, der geduldig am Fuße des Obelisken auf ihn gewartet hatte. Nachdenklich studierte daraufhin der Magier jene Inschriften und er fand, daß sie alle einer bestimmten Sprache zugehörig waren, welche nur von wenigen Menschen ganz im Osten der Städte gesprochen wurde. Ein guter Hinweis auf die Herkunft des Geistes schien ihm dies zu sein und so machten sich die beiden nun nach dem äußersten Osten auf.
Suchend durchquerten sie in der Folge vielerlei Landschaften und folgten weiter ihrem Weg, der sie in die Ferne, dem Sonnenaufgang entgegen, führte. So kamen sie mit der Zeit in die östliche der fünf weiten Städte und drangen immer tiefer in ihr Gebiet vor. Je weiter sie aber kamen, desto mehr häuften sich die Begebenheiten, bei denen den Geist der Anflug eines Gefühls der Vertrautheit überkam. Tiefer und tiefer drangen sie in jene viele Tagesreisen durchmessende Stadt hinein und immer intensiver wurden die Gedanken des Geistes und immer mehr gewannen sie an Kraft und mit ihnen auch all seine anderen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Bald konnte er frei durch den Wind sprechen, bald in begrenztem Maße schemenhaft sichtbar werden, bald gar durch die Kraft seines Willens Dinge bewegen. Und je weiter sie nach Osten kamen, desto mehr erwachte auch seine Erinnerung und auch zog ihn ein unbestimmter Drang immer weiter in diese Richtung.
So gelangten sie weiter, bis fast bis zur äußersten Grenze der Städte, und dort fanden sie einen kleinen Marktplatz vor, um den herum ein Dutzend bewohnter Häuser standen. Der rötliche Naturstein ihrer Mauern zeichnete sich in unnatürlichem Gegensatz gegen das Grün der umgebenden Wiesen ab und der starke Wind, der hier wehte, schien alle Wesen in Sichtweite frösteln zu machen, den Geist aber zu stärken. Und der Geist fühlte sich zu Hause. Als er aber jene Häuser erblickte, da sah er sich mit ungeheurer Macht zu einem von ihnen hingezogen. Fliegenden Schrittes eilte er in seiner nunmehr nur allzu festen Erscheinung zu ihm hin, so daß der Magier Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen.
Da riß der Geist die Eingangstür des Hauses auf, stürmte hinein, stieß eine ältliche, verwirrte Hausfrau zur Seite, und hielt direkt auf eine in altmodischem Stil gehaltene Holztreppe zum oberen Stockwerk zu. Kurz hinter ihm folgte der Magier, der keuchend über die protestierend quietschenden Stufen hinter ihm her rannte. Dennoch verlor er den Geist aus den Augen, folgte aber, oben angekommen, dem Geräusch einer schlagenden Tür, welches ihm den Weg wies. Dort sah er nun jene Tür, trat durch sie hindurch und fand sich in einer kleinen Kammer wieder, wo zahlreiche Bücher und Fläschchen in Regalen standen. Auf der rechten Seite des Raumes, unmittelbar unter einer Dachschräge, kniete dort der Geist vor einer niedrigen Kommode und kramte suchend in ihr herum. Stirnrunzelnd beobachtete ihn der Magier, sagte jedoch nichts.
Schließlich zog der Geist mit einem triumphierenden Aufschrei einen Brief aus einer Ecke hervor und hielt ihn hoch in die Luft. Der Magier, welcher dadurch neugierig geworden war, trat näher und laß die Aufschrift auf dem Couvert: "An mich, mein Freund". Und mit zitternd scheinenden Händen öffnete der Geist den Brief und las ihn dem Magier vor:
"Sei mir gegrüßt, Du, der Du dies ließt. Und es sollte mich verwundern, wärest Du etwas anderes als ein Spuk mit wenig wahrer Gestalt, auf der Suche nach wahren Antworten und Bestimmungen für Deine Zukunft. Doch wisse: Du warst es selbst, und bist es, der Dir diese Zeilen schrieb. Ja, ich sage es und ich bin es: Enbera, der Magier, ein Wesen, das diese Zeilen aus der Gegenwart an die Zukunft und aus der Vergangenheit an die Gegenwart richtete und richtet. Ich bin Du. Und nun wisse auch Folgendes: Denn es verhält sich so, daß ich den Tod hasse und verabscheue. Wenn Du aber nun gekommen bist - oder vielmehr geleitet durch meine und Deine Macht - in dem Glauben, hier eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Dein Geist Erlösung und damit die eigene Auslöschung finden kann, so muß ich Dich enttäuschen. Denn ich war und bin zu allen Zeiten ein Magier von Macht und großem Wissen und dies wußte ich auszunutzen. Als erster nämlich unter all denen, die vor mir waren, gelang es mir, eine Zauberformel zu entdecken, welche es mir erlaubt, durch eine Art zeitliche Verzögerung hindurch meinen eigenen Geist zu beeinflussen, so ich gestorben war. Und sterben werde ich wie jeder Mensch. Wenn aber Du, der Geist, dies ließt, so war mein Plan erfolgreich. Und wisse daher zuletzt, daß für Dich allein unter allen Geistern die Erlösung nicht im Tod liegt, sondern im Leben. Und nun, da Du Deinen Namen kennst, Enbera, hast Du es in gewisser Weise wieder. Nutze es gut und in meinem Sinne und was mein Sinn ist, daran wirst Du Dich schon noch erinnern ebenso wie daran, diese Zeilen geschrieben zu haben."
Und als der Geist mit diesen Worten schloß, da erinnerte er sich und wußte wieder, wer er war und lachte laut und befreit auf, denn die letzte Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, war es, am Leben zu bleiben. Und er war glücklich, denn er fühlte, wie das wahre Dasein von seinem ätherischen Körper wieder Besitz ergriff und er in gewisser Weise wieder zu einem Menschen wurde, zur Gänze aber zu einem Magier von großer Macht. Und der andere Magier, jener, welcher ihn von den Bergen hierher geleitet hatte, staunte da ob der wunderbaren Kräfte, die hier am Werke waren.
Er und Enbera jedoch wurden sich im Laufe der nächsten Tage schnell darüber klar, daß sie ihrem wahren Wesen nach Männer ganz ähnlichen Schlages waren und so wurden sie die besten Freunde, welche man jemals unter den Magiern kannte, und so manche schöne Zeit verlebten sie beide in den darauffolgenden Jahren in der Gesellschaft des anderen.
Autor: Paul Tobias Dahlmann